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Leitartikel September 2025; Stadtrat Philipp Wespi

9. September 2025

BESSER ZWEIMAL DENKEN ALS EINMAL BEREUEN

Politik ist manchmal das Wettrennen der schnellen Antworten: «Zu teuer!», «Zu langsam!», «Zu we­nig!». Unsere Köpfe sind Weltmeister im Urteilen im Sekundentakt. Daniel Kahneman, Nobelpreisträ­ger und Meister des menschlichen Denkens, be­schreibt zwei Systeme in uns: «System 1», das in­tuitive, flinke, manchmal übermütige, und «Sys­tem 2», das gemächliche, prüfende – und meist ver­läss­lichere.

Wir brauchen beide. Ohne System 1 würden wir in den Behörden diskutieren, ob wir überhaupt disku­tieren dürfen – und kämen nie zu einem Entscheid. Aber ohne System 2 stolpern wir kopfüber in Pro­jekte und Aufgaben, die auf den ersten Blick glänzen – und auf den zweiten Blick die Stadtkasse leeren.

Auch in der Lokalpolitik kann sich dies zeigen. Ein neues Schulhaus oder ein neuer Werkhof? Sys­tem 1 ruft: «Das können wir uns nicht leisten!» – System 2 fragt: «Und was kostet der Bau in fünf Jahren und der Unterhalt in zwanzig?» Hochhäuser im Zentrum? System 1 mahnt: «Bloss nichts verän­dern!» – System 2 sieht: «Ohne Fortschritt gehen wir rückwärts.» Und bei der Finanzpolitik? System 1 ruft: «Keine Steuererhöhungen» oder «Sparen? Ohne mich!» – System 2 erinnert: «Ohne solide Fi­nanzen leisten wir uns bald weder Infrastruktur noch Lebensqualität».

Das schnelle Denken fühlt sich überzeugend an: klare Bilder, starke Emotionen. Aber nachhaltige Po­litik entsteht selten aus Bauchgefühlen, sondern aus Geduld, Abwägen und dem Mut, auch unpopuläre Entscheide zu fällen. Natürlich benötigen wir rasche Entscheidungen, wenn es brennt. Doch wenn es um Infrastruktur, Raumplanung oder Finanzen geht, lohnt sich die zweite Denkrunde. Nicht, weil sie be­quemer ist – sondern weil sie die Zukunft gestaltet.

Kahnemans Botschaft ist damit nicht nur psycholo­gisch, sondern politisch: Wir dürfen uns Zeit neh­men. Wir dürfen den leisen, gründlichen Denker/die leise, gründliche Denkerin in uns lauter stellen. Und wir dürfen anerkennen, dass die besten Lösungen nicht in Schlagzeilen stecken, sondern oft in Tabel­len, Diskussionen – und ja, auch in scheinbar lang­weiligen Sitzungen.

Schnell denken ist wunderbar fürs Apéro-Plättli im Anschluss. Langsam denken ist unverzichtbar für die Fragen, die uns in zehn oder zwanzig Jahren noch beschäf­tigen. Gönnen wir unseren Entschei­den stets etwas Tiefe – und unserer Politik damit Zukunft.

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